NAR GARZHVOG
Eragon
trat in den Pavillon und auch Saphira steckte den Kopf durch die
Türöffnung. Ein vielstimmiges metallisches Geräusch schlug ihm
entgegen, als Jörmundur und ein halbes Dutzend von Nasuadas
Kommandeuren die Schwerter zückten und auf die Eindringlinge
richteten. Die Männer senkten erst ihre Waffen, als Nasuada sagte:
»Komm herein, Eragon.«
»Du hast nach mir geschickt?«
»Ja. Unsere Kundschafter berichten, dass von
Nordosten ein paar hundert Kull im Anmarsch sind.«
Eragon runzelte die Stirn. Er hatte nicht
damit gerechnet, in dieser Schlacht auf die Urgal-Riesen zu
treffen, denn sie standen ja nicht mehr unter Durzas Kontrolle und
überdies waren in Farthen Dûr viele von ihnen gefallen. Er spürte
den in ihm aufwallenden Abscheu und gestattete sich ein teuflisches
Grinsen bei der Vorstellung, wie er sie mit seinen neu erworbenen
Kräften auseinander nehmen würde. Er packte den Schwertknauf und
sagte: »Es wird mir ein Vergnügen sein, die Kerle zu eliminieren.
Saphira und ich könnten das allein erledigen, wenn du es
wünschst.«
Nasuada betrachtete ihn aufmerksam, dann
sagte sie: »Das geht nicht, Eragon. Sie haben die weiße Flagge
gehisst.«
Eragon starrte sie verblüfft an. »Du hast
doch nicht etwa vor, ihnen eine Audienz zu gewähren?«
»Ich gewähre ihnen dieselbe Höflichkeit, die
ich jedem entgegenbringen würde, der unter dem Banner der
Waffenruhe zu mir kommt.«
»Es sind brutale Schlächter! Ungeheuer! Es
wäre töricht, sie ins Lager zu lassen... Nasuada, ich habe gesehen,
welche Grausamkeiten Urgals zu begehen in der Lage sind. Sie lieben
es, anderen Schmerzen und Leid zuzufügen, und haben nicht mehr
Gnade verdient als ein tollwütiger Hund. Es kann nur eine Finte
sein! Erteile mir den Befehl und ich werde diese hinterhältigen
Kreaturen töten!«
»Ich muss Eragon Recht geben«, sagte
Jörmundur. »Wenn Ihr nicht auf uns hören wollt, Nasuada, dann hört
wenigstens auf ihn.«
Nasuada flüsterte Eragon etwas zu, sodass es
die anderen nicht hören konnten: »Deine Ausbildung ist wirklich
noch nicht abgeschlossen, wenn du so ein Heißsporn bist!« Dann hob
sie die Stimme, und Eragon vernahm darin denselben harten Klang,
den schon ihr Vater besessen hatte: »Ihr alle vergesst, dass auch
ich, genau wie ihr, in Farthen Dûr gekämpft und die Brutalität der
Urgals gesehen habe. Allerdings habe ich auch gesehen, wie unsere
Männer ähnliche Gräueltaten verübten. Ich will ja nicht leugnen,
dass die Urgals uns Schlimmes angetan haben, aber ich werde keinen
potenziellen Verbündeten abweisen, solange wir dem Imperium
zahlenmäßig derart unterlegen sind!«
»Herrin, es ist viel zu gefährlich, Euch mit
einem Urgal zu treffen«, sagte Jörmundur.
»Zu gefährlich?« Nasuada hob eine
Augenbraue. »Während Eragon, Saphira, Elva und meine gesamte
Streitmacht mich beschützen? Ich finde, du übertreibst.«
Eragon knirschte hilflos mit den
Zähnen. Sag doch etwas, Saphira! Du musst
sie von diesem selbstmörderischen Plan abbringen.
Nein, das werde ich
nicht. Dein Verstand ist in dieser Sache umnachtet.
Du kannst doch nicht
ihrer Meinung sein!, entgegnete Eragon
entgeistert. Du warst in Yazuac dabei! Du
weißt, was die Urgals mit den Dorfbewohnern gemacht haben. Der
Zwischenfall nach Teirm, meine Gefangennahme in Gil’ead, Farthen
Dûr! Immer wenn wir Urgals begegnet sind, haben sie versucht, uns
umzubringen oder noch Schlimmeres mit uns anzustellen. Sie sind
nichts weiter als verschlagene Bestien!
Vor dem Du Fyrn
Skulblaka haben die Elfen dasselbe über die Drachen
gesagt.
Auf Nasuadas Geheiß wurden nun die vordere
und die seitlichen Zeltplanen des Pavillons hochgeschlagen, damit
jeder hereinschauen und Saphira sich neben Eragon auf den Boden
legen konnte. Dann nahm Nasuada auf dem hochlehnigen Stuhl Platz,
und Jörmundur und die anderen Befehlshaber stellten sich in zwei
parallelen Reihen vor ihr auf, sodass sie eine Gasse bildeten,
durch die jeder, der mit ihr reden wollte, zuerst hindurchschreiten
musste. Eragon stand rechts von ihr, Elva links.
Kaum fünf Minuten später ertönte am Ostrand
des Lagers wütendes Gebrüll. Die Schmährufe wurden lauter und
lauter, bis ein einzelner Kull in Sicht kam. Er schritt auf
Nasuadas Pavillon zu, während ein Pulk von Varden ihn mit
Beschimpfungen bombardierte. Der Kull - man nannte sie auch
»Rammböcke«, wie Eragon bei seinem Anblick wieder einfiel - hielt
den Kopf hoch erhoben und fletschte die gelben Fänge, zeigte
ansonsten aber keinerlei Reaktion auf die Pöbeleien. Es war ein
riesiger Kerl, über zweieinhalb Meter groß, mit stolzen, wenn auch
grotesk verzerrten Zügen, dicken, gewundenen Hörnern und solchen
Muskelbergen, dass er vermutlich mit einem einzigen Hieb einen
Bären niederstrecken konnte. Seine Kleidung bestand lediglich aus
einem Lendenschurz, einigen kruden Panzerplatten, die von rostigen
Eisenketten zusammengehalten wurden, und einer runden
Metallscheibe, die zwischen den Hörnern saß und seine Schädeldecke
schützen sollte. Das lange schwarze Haar war zu einem Zopf
zurückgebunden.
Eragon merkte, wie sich sein Gesicht zu
einer hasserfüllten Grimasse verzog. Er musste gegen den Drang
ankämpfen, mit gezücktem Schwert auf das Ungetüm loszugehen. Und
doch kam er nicht umhin, den Mut des Urgal-Riesen zu bewundern, der
ganz allein und unbewaffnet einem feindlichen Heer gegenübertrat.
Zu seiner Überraschung spürte Eragon, dass ein massiver Schutzwall
den Geist des Kull umgab.
Als er vor den hochgeschlagenen Zeltplanen
des Pavillons stehen blieb und offenbar nicht weiterzugehen wagte,
bedeutete Nasuada ihren Wachen, die aufgebrachte Menge zu
beruhigen. Alle starrten auf den Kull und fragten sich, was er als
Nächstes tun würde.
Er reckte die muskelbepackten Arme zum
Himmel und nahm einen gewaltigen Atemzug, dann öffnete er das Maul
und stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus. Augenblicklich richtete
sich ein Dickicht von Schwertern auf ihn, doch er achtete nicht
darauf, sondern brüllte weiter, bis seine Lungen leer waren. Dann
sah er Nasuada an und knurrte mit tiefer, kehliger Stimme: »Soll
das ein Hinterhalt sein, Nachtjägerin? Mir wurde sicheres Geleit
zugesagt. Brechen die Menschen ihr Wort so schnell?«
Einer von Nasuadas Kommandeuren beugte sich
zu ihr vor und sagte: »Wir sollten ihn für seine Unverschämtheit
bestrafen, Herrin. Nachdem wir ihm den geziemenden Respekt
eingebläut haben, könnt Ihr Euch immer noch anhören, was er
vorzubringen hat.«
Eragon hätte lieber geschwiegen, doch er war
sich seiner Pflichten gegenüber Nasuada und den Varden bewusst,
daher flüsterte er Nasuada schnell ins Ohr: »Sei nicht beleidigt!
Sie begrüßen ihre Kriegshäuptlinge immer auf diese Weise. Die
übliche Antwort darauf wäre, die Köpfe aneinander zu schlagen, aber
ich glaube, das lassen wir besser bleiben.«
»Haben dir das die Elfen beigebracht?«,
murmelte sie, ohne den Blick von dem Kull abzuwenden.
»Ja.«
»Was haben sie dir sonst noch
erzählt?«
»Eine ganze Menge«, bekannte er
widerwillig.
Dann sagte Nasuada zu dem Kull, aber auch zu
ihren dahinter stehenden Soldaten: »Die Varden sind keine Lügner,
so wie Galbatorix und das Imperium. Sag, was du zu sagen hast! Du
hast bei dieser Zusammenkunft nichts zu befürchten.«
Der Kull brummte etwas und hob das Kinn,
sodass seine Kehle entblößt war. Eragon erkannte dies als eine
Unterwerfungsgeste. Den Kopf zu senken, wäre eine Drohung gewesen,
denn es bedeutete, dass er vorhatte, jemanden mit seinen Hörnern zu
rammen. »Ich bin Nar Garzhvog vom Stamm der Bolvek. Ich spreche im
Namen meines Volkes.« Es schien, als würde er jedes einzelne Wort
erst zerkauen, bevor er es ausspuckte. »Wir Urgals werden mehr
gehasst als jedes andere Volk. Elfen, Zwerge, Menschen, alle jagen
uns, verbrennen uns und vertreiben uns aus unseren Hallen.«
»Nicht ohne Grund«, erklärte Nasuada.
Garzhvog nickte. »Nicht ohne Grund. Mein
Volk liebt den Krieg. Aber wie oft greift man uns an, nur weil Ihr
uns so hässlich findet wie wir Euch? Unsere Zahl ist seit dem
Untergang der Drachenreiter stetig gewachsen. Unsere Stämme sind
jetzt so groß, dass der karge Boden, auf dem wir leben, uns nicht
mehr ernähren kann.«
»Deshalb habt ihr euch mit Galbatorix
verbündet.«
»Ja, Nachtjägerin. Er hat uns gutes Land
versprochen, wenn wir seine Feinde töten. Aber er hat uns
hereingelegt. Sein Schamane mit dem blutroten Haar, Durza, hat den
Geist unserer Kriegshäuptlinge verzaubert und unsere Stämme zur
Zusammenarbeit gezwungen, was gegen unsere Natur ist. Als wir dies
im hohlen Berg der Zwerge erfuhren, hat die Herndall, die große
Mutter unserer Stämme, meine Brutpartnerin zu Galbatorix geschickt,
um ihn zu fragen, warum er uns ausgenutzt hat.« Garzhvog schüttelte
seinen riesigen Kopf. »Sie ist nie mehr zurückgekehrt. Unsere
besten Rammböcke sind für Galbatorix gestorben - und er hat uns wie
ein zerbrochenes Schwert weggeworfen. Er ist eine Drajl und ein doppelzüngiger, hornloser
Betrüger! Wir sind jetzt weniger, Nachtjägerin, aber wir werden an
Eurer Seite kämpfen, wenn Ihr es zulasst.«
»Zu welchem Preis?«, fragte Nasuada. »Eure
Herndall möchte doch bestimmt eine Gegenleistung.«
»Blut. Galbatorix’ Blut. Und falls das
Imperium fallen sollte, bitten wir Euch um Land, von dem wir in
Ruhe leben können.«
Noch bevor sie antwortete, konnte Eragon
Nasuadas Entscheidung an ihrem Gesichtsausdruck ablesen. Offenbar
ging es Jörmundur genauso, denn er beugte sich zu ihr hinab und
sagte: »Nasuada, das könnt Ihr nicht tun! Das ist gegen die
Natur!«
»Die Natur kann uns nicht helfen, das
Imperium zu besiegen. Wir brauchen Mitstreiter.«
»Die Männer desertieren eher, als dass sie
mit Urgals kämpfen.«
»Das werden wir verhindern. Eragon, werden
sie ihr Wort halten?«
»Nur solange wir einen gemeinsamen Feind
haben.«
Mit scharfem Kopfnicken hob Nasuada abermals
die Stimme. »Also gut, Nar Garzhvog. Du und deine Krieger, ihr
könnt an der Ostflanke unserer Armee kampieren, weit entfernt von
der Kerntruppe, und wir werden die Bedingungen für unseren Pakt
festlegen.«
»Ahgrat
ukmar«, brummte der Kull und schlug sich mit der Faust
vor die Stirn. »Ihr seid eine weise Herndall, Nachtjägerin.«
»Warum nennst du mich so?«
»Herndall?«
»Nein, Nachtjägerin.«
Garzhvog gab einen bellenden Laut von sich,
den Eragon als Lachen interpretierte. »Nachtjäger ist der Name, den
wir Eurem Vater gaben, weil er uns in den dunklen Tunneln unter dem
Zwergenberg gejagt hat und weil seine Haut schwarz war. Als seiner
Tochter steht es Euch zu, denselben Namen zu tragen.« Damit wandte
er sich um und marschierte aus dem Lager.
Nasuada erhob sich und verkündete: »Jeder,
der die Urgals angreift, wird bestraft, als hätte er einen Menschen
attackiert. Teilt allen Kompanien diese Order mit!«
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, sah
Eragon König Orrin mit wallendem Umhang herbeieilen. Als er nah
genug war, rief er: »Nasuada! Stimmt es, dass Ihr mit einem Urgal
verhandelt habt? Was hat das zu bedeuten und warum habe ich nicht
früher davon erfahren? Ich kann nicht -«
Er wurde von einem Wachsoldaten
unterbrochen, der zwischen den grauen Zelten hervorgestürmt kam und
brüllte: »Ein Reiter des Imperiums nähert sich!«
Augenblicklich vergaß König Orrin seinen
Ärger und eilte mit Nasuada zum Nordrand des Lagers, gefolgt von
wenigstens hundert Leuten. Statt sich der Menge anzuschließen,
kletterte Eragon auf Saphiras Rücken und ließ sich von ihr zu ihrem
Ziel bringen.
Als sie an den Erdwällen, Gräben und Reihen
von angespitzten Holzpflöcken angekommen waren, die das Vardenlager
schützten, sah Eragon einen einzelnen Soldaten in schnellem Galopp
über das Niemandsland heranpreschen. Über ihm stießen die Raubvögel
herab, in der Vorahnung, dass der erste Gang ihres Leichenschmauses
eingetroffen war.
Dreißig Meter vor der Brustwehr zügelte der
Soldat seinen schwarzen Hengst und rief den Varden zu: »Indem ihr
Galbatorix’ großzügige Kapitulationsbedingungen abgelehnt habt,
habt ihr euch für den Tod entschieden. Wir werden nicht mehr
verhandeln. Die Hand der Freundschaft hat sich in eine Faust des
Krieges verwandelt. Wer von euch noch euren rechtmäßigen Souverän,
den allwissenden und allmächtigen Galbatorix, anerkennt, soll nun
fliehen! Wir werden niemanden schonen, wenn wir erst einmal damit
angefangen haben, Alagaësia von allen Schurken, Verrätern und
Umstürzlern zu befreien. Und obwohl es unseren Herrn schmerzt, weil
er weiß, dass die meisten dieser aufständischen Akte von
verbitterten und fehlgeleiteten Heerführern angezettelt wurden,
werden wir das widerrechtlich besetzte Territorium namens Surda von
Grund auf säubern und es wieder der gnädigen Herrschaft von
Galbatorix zuführen, der sich Tag und Nacht für das Wohl seines
Volkes aufopfert. Also flieht oder geht mit euren Knechten
unter!«
Dann öffnete der Soldat einen Stoffbeutel
und holte einen abgetrennten Kopf heraus. Er schleuderte ihn in
hohem Bogen ins Vardenlager, riss seinen Hengst herum, gab ihm die
Sporen und galoppierte zurück in die dunkle Masse von Galbatorix’
Armee.
»Soll ich ihn töten?«, fragte Eragon.
Nasuada schüttelte den Kopf. »Wir lassen
noch früh genug Gerechtigkeit walten. Ich werde die Unantastbarkeit
von Abgesandten nicht verletzen, selbst wenn das Imperium sie
schickt.«
»Wie du -« Er klammerte sich mit einem
überraschten Seufzer an Saphiras Hals fest, als sie sich aufbäumte
und die Vorderbeine auf einem Erdwall absetzte. Dann riss sie das
Maul auf und stieß ein lang gezogenes, tiefes Brüllen aus, ähnlich
wie Garzhvog, nur dass es bei ihr eine Herausforderung an ihre
Feinde war und ein Weckruf für alle, die Galbatorix
verabscheuten.
Der Schall ihrer Stimme erschreckte den
Hengst so sehr, dass er nach rechts ausbrach, auf dem heißen
Untergrund ins Stolpern geriet und stürzte. Der Soldat fiel vom
Pferd und landete in einem Flammengeysir, der just in diesem Moment
aufloderte. Er stieß einen so grässlichen Schrei aus, dass sich
Eragon die Nackenhaare aufrichteten. Dann verstummte der Mann und
blieb verkohlt liegen.
Die Vögel setzten zur Landung an.
Die Varden bejubelten Saphiras Erfolg
lautstark. Selbst Nasuada gestattete sich ein leises Lächeln. Dann
klatschte sie in die Hände und sagte: »Ich schätze, sie werden im
Morgengrauen angreifen. Eragon, ruf die Du Vrangr Gata zusammen und
halte dich bereit! Du bekommst binnen einer Stunde meine Befehle.«
Sie legte Orrin die Hand auf die Schulter und führte ihn ins
Zentrum des Truppenlagers zurück. »Majestät, wir müssen einige
Entscheidungen treffen. Ich habe einen Plan, der allerdings
erfordert, dass...«
Sie sollen ruhig
kommen, sagte Saphira. Ihre Schwanzspitze zuckte hin und
her wie bei einer Katze, die ein Kaninchen jagt. Sie werden alle verbrennen.